Wie lernen Kinder am besten Rechtschreibung?
Zum Thema Schreibenlernen ist ein Meinungsstreit entbrannt, was die richtige Rechtschreibmethode sei. Ein Abwägen des Für und Wider der unterschiedlichen Ansätze hilft dabei, eine bewusste Wahl für den eigenen Unterricht zu treffen.

„Ich hab mir das Wort ‚Rechtschreibung‘ ausgesucht. Ich schreib’s jetzt erst mal an die Tafel“, sagt Zweitklässlerin Ida. Nachdem das Wort groß und deutlich in der Mitte der aufgeklappten Tafel steht, fragt sie in die Klasse: „Wo sind die schwierigen Stellen drin‘?“ Ihre Mitschüler melden sich, ein Unterrichtsgespräch beginnt: „Bei dem ‚ei‘ könnte man ein ‚ai‘ schreiben“ sagt ein Kind, und Ida markiert die von ihren Klassenkameraden benannten rechtschriftlich „schwierigen“ Buchstaben und Laute rot. „Wieso wird es eigentlich großgeschrieben? Weiß es jemand?“ „Weil man da „der“ oder „die“ vorsetzen kann“, antwortet ein Kind. „Jaaaa, aber es gibt noch was ...“ — Keiner meldet sich, und Ida erklärt: „Weil wenn es hinten ‚u — n — g‘ heißt, wird es großgeschrieben. Dann zerlegt Ida mit den Kindern der Klasse das Wort in seine Silben und Bausteine. Die Schüler prüfen, ob die Vokale kurz oder lang sind und bilden schließlich einen ganzen Satz mit dem Wort.
Wer sich das knapp vierminütige Video mit Ida ansieht, wird Zeuge eines „Rechtschreibgesprächs“, das zum Deutschunterricht nach dem ganzheitlichen Konzept von Dr. Beate Leßmann gehört. Schreiben lernen die Kinder dabei mit einer Anlauttabelle, einer von zwei Methoden, die aufgrund einer aktuellen Studie der Universität Bonn in die Kritik geraten sind.
„Rächtschreibunk bässa mit Fihbl“
In dieser Art übertitelten mehrere große Magazine und Tageszeitungen ihre Berichte über eine Studie der Universität Bonn, deren Ergebnisse Prof. Dr. Una M. Röhr-Sendlmeier und Tobias Kuhl am 21.09.2018 auf der Bundeskonferenz für Schulpsychologen vorstellten.
Die Psychologen hatten die Rechtschreibleistungen von insgesamt 3084 Grundschulkindern in Nordrhein-Westfalen verglichen, die mit drei verschiedenen Methoden Schreiben lernten: mit „Lesen durch Schreiben“, mit der „Rechtschreibwerkstatt“ und mit dem traditionellen Fibelunterricht. Sie testen dabei einmal 284 Kinder in einer Längsschnittstudie: Als erstes jeden einzelnen Schüler kurz nach der Einschulung auf phonologische Bewusstheit und Buchstabenkenntnis, wobei die 79 „Lesen-durch-Schreiben-Kinder“ „signifikant höhere Vorkenntnisse“ zeigten. Vom Ende der ersten bis zum Ende der dritten Klasse prüften die Wissenschaftler bei den Kindern dann insgesamt fünf Mal halbjährlich die Rechtschreibleistungen mit der jeweils altersgemäßen Version der „Hamburger-Schreib-Probe“, abgekürzt „HSP“ (ebd., PDF, S. 1). Ergebnis: „Die Fibelgruppe hat sich gegenüber den beiden anderen Didaktikgruppen als überlegen erwiesen. Zu allen fünf Messzeitpunkten haben die Fibelkinder bessere Rechtschreibleistungen erbracht“, fasst Doktorand Tobias Kuhl im Pressetext der Uni Bonn zusammen.
Dazu ergänzend analysierten die Forscher in einer Querschnittstudie die HSP-Daten von weiteren 2800 Kindern „der drei Didaktikgruppen“ (ebd.). Auch hier gab es ein deutliches Ergebnis: „Am Ende des 4. Schuljahrs machten Lesen durch Schreiben-Kinder [sic!] 55 % mehr Fehler als die Fibel-Kinder“, und bei den Rechtschreibwerkstatt-Schülern waren es sogar „105 % mehr Fehler als bei den Fibel-Kindern“ (Zusammenfassung der Studie, Link s. o., PDF S. 5). Die Ergebnisse von Längs- und Querschnittsstudie sind also vergleichbar, sodass man — laut Ergebniszusammenfassung — „von gut abgesicherten Befunden sprechen“ kann (ebd., PDF S. 4). — Fazit von Prof. Dr. Una M. Röhr-Sendlmeier: „Die Studienergebnisse weisen klar darauf hin, dass alle Kinder gleichermaßen vom Einsatz einer Fibel im Unterricht profitieren.“ (Pressetext, Link s. o.)
Strukturierter Fibel-Ansatz vs. „freiere Methoden“
Wie erklären sich die Bonner Psychologen die besseren Rechtschreibkenntnisse der „Fibelkinder“? Der Pressetext zur Studie (Link s. o.) skizziert kurz die Unterschiede aus Sicht der Bonner Psychologen: Der „Fibelansatz“ gehe systematisch vor und führe „schrittweise einzelne Buchstaben und Wörter ein“. Gesprochene Wörter würden „unter Anleitung in Einzellaute zerlegt und jeder Laut einem Buchstaben zugeordnet“. Die Kinder erlernten die Schriftsprache „in einem fest vorgegebenen, strukturierten Ablauf vom Einfachen zum Komplexen“ und bauten dabei „einen schriftsprachlichen Grundwortschatz“ auf. Auch gehörten beim Fibelunterricht „Korrekturen durch die Lehrperson“ dazu.
Anders die „Rechtschreibwerkstatt“ (nach Norbert Sommer-Stumpenhorst): Hier sei „keine feste Abfolge einzelner Lernschritte“ vorgegeben, sondern lediglich Materialien, „die die Kinder selbstständig in individueller Reihenfolge und ohne zeitliche Vorgaben“ bearbeiteten.
Auch beim Ansatz „Lesen durch Schreiben“ (nach dem Reformpädagogen Jürgen Reichen) sollten „Korrekturen falsch geschriebener Wörter (...) unterbleiben“, um nicht die Schreibmotivation der Kinder zu beeinträchtigen (Pressetext). Bei dieser Methode beginnen die Kinder schon frühzeitig, frei zu schreiben und lernen dabei gleichzeitig lesen. Dazu nutzen sie eine Anlauttabelle, bei der die Buchstaben Bildern zugeordnet sind, zum Beispiel „I“ wie Igel, „A“ wie „Affe“ oder „Eu“ wie Eule. Mit dieser Wort-Buchstaben-Tabelle schreiben sie direkt Wörter so, wie sie sie hören, ohne (wie im Fibelunterricht) warten zu müssen, bis sie die einzelnen Buchstaben durchgenommen haben. Da aber die deutsche „Schriftsprache nicht eine Eins-zu-eins-Entsprechung in der Lautgestalt unserer Sprache“ hat, „schleifen sich sehr viele Fehlschreibungen ein, und die Kinder müssen im Nachhinein noch mal umlernen“ sagt Una M. Röhr-Sendlmeier im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Auch das Argument, dass sich dadurch bei Kindern fehlerhafte Schreibweisen regelrecht verfestigen, wird von den zahlreichen Kritikern der Methode oft genannt.
Gehört „Lesen durch Schreiben“ verboten?
Mit Bekanntwerden der ersten Ergebnisse der Bonner Studie entbrannte eine nicht immer emotionsfreie Debatte. Unter Beschuss geriet dabei insbesondere die Methode „Lesen durch Schreiben“, die ohnehin schon in einigen Bundesländern vonseiten der Schulministerien verpönt ist. So will etwa Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst im Nachgang zur Bonner Studie die umstrittene Methode ab dem Schuljahr 2019/2020 abschaffen.
Auch Lehrerverbände schalten sich in die Debatte ein: Hans-Peter Meidinger, Gymnasiallehrer und Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL) forderte etwa, die Ergebnisse der Bonner Psychologen ernst zu nehmen. Zwar bräuchten Lehrkräfte „großen pädagogischen Freiraum bei der Wahl der Methoden“, die Grenze sei „aber erreicht, wenn das Lernziel nicht geschafft wird.“ (vgl. News4teachers, „Streit um ‚Lesen durch Schreiben‘: Meidinger stellt Methodenfreiheit der Grundschulen infrage“). Der DL verlangt deshalb ein bundesweites Verbot von „Lesen durch Schreiben“. — Das geht zu weit, finden viele Deutschdidaktiker, umso mehr, als die Ergebnisse der Bonner Studie bis heute (Stand 03.01.2020) noch nicht veröffentlicht wurden.
Arbeit von Grundschullehrkräften wird diskreditiert
Uwe Beckmann warf Meininger vor, „die Arbeit vieler Grundschullehrkräfte zu diskreditieren“ (ebd., News4Teachers). „Jede einzelne Schule sollte die Entscheidung treffen, auf welche Weise sie den Kindern in den ersten Schuljahren das Lesen und Schreiben vermittelt“, so der Standpunkt des Bundesvorsitzenden vom Verband Bildung und Erziehung (ebd.).
Die Zeitschrift „Grundschule aktuell“ (Nr. 144, November 2018) widmete der „Gespensterdebatte mit realen Folgen“ sogar ein „EXTRA zu Schreibenlernen und Methodenverbot“ auf 11 Sonderseiten. Hier findet sich zum Beispiel eine „gesalzene“ Reaktion des Grundschulverbands zu dem von Brandenburgs Bildungsministerin geforderten „Unsinn“, verbunden mit der Forderung zur „Rückkehr zu sachlicher und fachlich fundierter Diskussion über Schreiben und Rechtschreiben“ (ebd., S II). Eines der zentralen Gegenargumente findet sich an oberster Stelle: „Es gibt weder die ‚Fibel‘ (sondern mehrere Dutzend sehr unterschiedliche) noch das ‚Schreiben nach Gehör‘ (sondern ganz verschiedene Ansätze, die das lautorientierte Schreiben eigener Texte als Einstieg in den Schriftspracherwerb stützen).“
Das aufgeregte Wettern gegen „Lesen durch Schreiben“ wird umso unverständlicher, als ohnehin nur ein verschwindend geringer Anteil von Grundschulen überhaupt mit der Methode in Reinform arbeitet (vgl. dazu: News4Teachers, Link s. o.). Lediglich drei Prozent der Lehrkräfte wendeten die Methode an, schreibt Dr. Barbara Leßmann auf ihrer Website. Und in ihrem eigenen Unterrichtskonzept ergänzt das individuelle Schreiben mit der Anlauttabelle „ein individuell ausgerichtetes Rechtschreibtraining von Anfang an“. Der „Leitfaden ‚Rechtschreibung — kurz gefasst‘“ gibt Ihnen einen Überblick über die vielfältigen Bausteine vom „Training an individuellen Fehlerschwerpunkten mit der Rechtschreibbox“ über gezielte Wortschatzarbeit bis zu den „Rechtschreibgesprächen“, die Zweitklässlerin Ida im eingangs verlinkten Video so eindrucksvoll demonstriert hat. Und in der Broschüre „Fragen und Antworten zur Anlauttabelle“ (hier die Downloadseite) stellt sich Dr. Beate Leßmann der Diskussion und erläutert ihre Position im Methodenstreit mit verständlich formulierten Informationen aus Unterricht, Didaktik und Forschung.
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