Montessori im Licht der Sonderpädagogik
Montessori-Materialien und -Prinzipien haben seit langem im sonderpädagogischen Förderbereich ihren Platz und ergänzen sonderpädagogische Unterrichtsprinzipien. So können die Schüler individuell gefördert werden – und sich selbst verwirklichen.

„Der Weg, auf dem die Schwachen sich stärken, ist der gleiche wie der, auf dem die Starken sich vervollkommnen“, so beschreibt Maria Montessori eine Idee des gemeinsamen Unterrichts. Sie betrachtet das Kind als „Meister seiner selbst“. Es hat die Kraft, sich selbst zum gereiften Menschen zu entwickeln und die eigene Lerntätigkeit in die Hand zu nehmen, wenn es die richtigen Umgebungsbedingungen vorfindet. Und nicht nur Montessori als Reformpädagogin, sondern auch der große Heilpädagoge Paul Moor umschreibt mit seinen Überlegungen zum „inneren Halt“ die Unterrichtung von Menschen mit Behinderungen durch das haltgebende Äußere als einen gangbaren Weg. „Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende“, mit diesem Leitspruch von Paul Moor kann der Leitgedanke der Sonderpädagogik als Hilfe zur Selbstverwirklichung und Inklusion beleuchtet werden. Ein Vergleich sonderpädagogischer Unterrichtsprinzipien mit den Prinzipien der Montessori-Pädagogik soll dies verdeutlichen und illustrieren.
Abwechslung darf den Schüler nicht überfordern
Rhythmisierung und Abwechslung sind durch die Selbstbestimmung und freie Wahl des Materials gewährleistet. Das Kind darf selbst bestimmen, wie lange und mit welcher Intensität es sich mit einer Sache beschäftigen möchte. In der sonderpädagogischen Adaption grenzt die Lehrkraft dies im Vorfeld auf ein bestimmtes Unterrichtsfach oder ein bestimmtes Aufgabenformat ein. So wird einer Überforderung durch zu viele Grundsatzentscheidungen entgegengewirkt. Methoden wie Lerntheke oder Wochenplan begünstigen rhythmisierte, abwechslungsreiche Lernphasen. Die Schüler können mit unterschiedlichen Arbeitsweisen in den Aufgabenstellungen automatisch Rhythmisierung erfahren.
Lernmaterial an individuelle Bedürfnisse angepasst
Ein Wechsel des Arbeitsplatzes ergibt sich durch verschiedene Aufgabenstellungen von allein. Das Kind kann sich jeweils den Arbeitsplatz suchen, der der Aufgabenstellung angemessen ist. Die Lernumgebung ist den Bedürfnissen von Kindern angepasst. Sie zeigt sich entwicklungsgerecht und altersgemäß, einfach und geordnet. Sie bietet dabei Abwechslung und fördert die Aspekte der Bewegung und Sinnesschulung.
Die Differenzierung bzw. Individualisierung liegt bereits im Materialangebot begründet. Dies ist hier viel intensiver möglich als bei vielen anderen Methoden. Die Differenzierung ist optimal auf den Entwicklungsstand der Schüler abzustimmen, da das Montessori-Material besonders systematisch einzelne Entwicklungsaspekte aufgreift und fördert. Gerade die Wahrnehmungs- und Sinnesmaterialien sind ein unerschöpflicher Schatz zur sonderpädagogischen Förderung. Aber auch die Gesamtmethode Montessori bietet durch die Grundstruktur schon immanente Differenzierung an.
Vielsinniges Lernen/Ganzheitlichkeit von Person, Sache und Angebot bezieht sich nicht auf das möglichst vielseitige Anbieten der gleichen Sache, sondern vielmehr auf die Gesamtheit aller Lernkanäle, wenn auch nicht innerhalb eines Materials. Je nach Lerntypus kann die Lehrkraft auch die Materialien anpassen. Der visuelle Lerntyp erhält dann zum gleichen Übungsfeld andere Materialien als der haptische oder akustische Lerntyp.
Schülerorientierung/Reduktion als methodische Überlegung kann wie bei keiner anderen Methode verfeinert werden. Die Materialien sind genau auf die Schüler zugeschnitten und ausgewählt. Nicht nur die Anzahl der zu bewältigenden Aufgaben wird angepasst, sondern auch die inhaltliche und methodische Tiefe.
Übung soll nicht als Wiederholung verstanden werden und liegt im Angebot der verschiedensten Materialien auf demselben Lernniveau. Durch vielfältiges heilpädagogisches Zusatzmaterial kann man die originalen Montessori-Materialien erweitern, um eine entsprechende Übungsintensität herzustellen.
Kinder sollen Rücksicht und Toleranz üben
Soziales Lernen und das Üben von Rücksicht und Toleranz kann als Prinzip der Montessori-Pädagogik verstanden werden, die sich auch als „Friedenserziehung“ versteht. Vor allem im Feld der sogenannten Kosmischen Erziehung (man würde heute sagen: Sachunterricht) zeigt sich die Hauptaufgabe der Verantwortung. Aber auch durch methodische Stellschrauben wird dieser Aspekt verwirklicht. Beispielsweise gibt es bei Montessori jedes Material nur einmal, sodass die Schüler sich mit gegenseitigem Respekt einigen müssen, wer es wann nutzen kann.
Drei Stufen zum Verstehen und Handeln
Handlungsbegleitendes Sprechen lenkt einerseits viele Schüler von der eigentlichen Sache ab. Andererseits ist ein sprachsensibler Unterricht immer auch ein Unterricht, der über die Kraft der Kommunikation wirkt. Durch die berühmte Drei-Stufen-Lektion schult Montessori insbesondere die Begriffsbildung und Kategorisierung. Diese beiden Aspekte spielen im Kernunterricht des Förderschwerpunkts Geistige Entwicklung eine wesentliche Rolle.
Die Handlungsorientierung ist der Montessori-Methode immanent. Der Schüler kann stets handelnd aktiv werden und ist in seiner ganzen Konzentration gefordert. Es ist sehr zielführend, die verschiedenen Lernniveaustufen der Lernpsychologie zu berücksichtigen. Sie repräsentieren unterschiedliche Arten von Handlungen. Jerome Bruner formuliert drei Repräsentationsstufen: Auf der enaktiven Stufe erfasst man einen Sachverhalt durch die eigene Handlung bzw. das tatsächliche Objekt. Unterrichtlich betrachtet ist ein reales Material oder ein realgetreues Modell, welches man wirklich in die Hand nehmen kann, hier unersetzlich. Die ikonische Stufe dient zur Erfassung einer bildlichen Darstellung. Im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung werden hier je nach Leseniveaustufe auch unterschiedlich komplexe Darstellungsformen gewählt. Die symbolische Stufe hilft bei der Erfassung von Sachverhalten über Zeichen und Symbole (vgl. Guy R. Lefrancois: Psychologie des Lernens. 4. überarb. u. erw. Aufl. Springer, Heidelberg 2006).
Montessori-Prinzipien für eine gelungene Inklusion
Lebensbedeutsamkeit steht im Bereich „Übungen des täglichen Lebens“ ohnehin im Vordergrund. Man hat Montessori angekreidet, die Bereiche Mathematik und Sprache seien zu abstrakt. Im sonderpädagogischen Feld ist hier die Entfaltungsmöglichkeit der Lehrkraft gefragt, auch Zusatzmaterialien, Abwandlungen und lebenspraktischere Übungen zu entwickeln.
In die Ursprünge von Montessoris Grundlegung floss der sinnesphysiologische Ansatz Seguins mit ein. Damit liegt die Verwendung der Montessori-Prinzipien in der Sonderpädagogik quasi auf der Hand. Durch die Adaption des Materials und durch heilpädagogisches Ergänzungsmaterial können auch Schüler mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten gefördert werden.
Besonders die Möglichkeiten zur Förderung bei Wahrnehmungsstörungen sind herausragend, weil strukturiert und aufeinander aufbauend. Insofern hilft die Montessori-Pädagogik mit ihrem Leitprinzip der Freien Wahl der Arbeit als methodische Grundüberlegung auch gut weiter, wenn es um Fragen der gemeinsamen Beschulung und Inklusion geht. Die Nutzbarmachung der Montessori-Prinzipien als methodisches Vorgehen für einen individualisierenden Unterricht ergänzt und erweitert andere bewährte Unterrichtskonzepte und ermöglicht so einen zeitgemäßen und effektiven Unterricht.
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